24. Juni 2022 - Redaktion Providentia

Digitaler Echtzeitzwilling des Verkehrs: Serienreif und rund um die Uhr einsetzbar

Die Teststrecke ausbauen, neue Sensoren einsetzen, die Softwarearchitektur dezentralisieren, Sensordaten für den 24/7-Betrieb eines digitalen Echtzeitzwillings fusionieren und Datenpakete öffentlich machen: In zweieinhalb Jahren hat Konsortialführer TU München das Forschungsprojekt Providentia++ entscheidend vorangebracht. Der technische Projektleiter Venkatnarayanan Lakshminarashiman, Wissenschaftler der TU München zieht Bilanz.

Welche Aufgaben hatte das TUM-Team im zweiten Teil des Forschungsprojekts?

Wir haben auf den Erkenntnissen des ersten Teils der Forschungen von Providentia aufgesetzt. Zu Beginn war es die Aufgabe, herauszufinden, wie eine passende Infrastruktur aussehen könnte, welche Sensoren für eine solche Teststrecke infrage kommen und welche Anforderungen an einen digitalen Zwilling gestellt werden sollten. Zwei Schilderbrücken wurden aufgebaut und mit einem prototypischen System ausgestattet, das grundsätzlich in der Lage war, einen digitalen Zwilling des Verkehrs zu erzeugen. Im zweiten Teil der Forschungen, in Providentia++, ging es uns nun darum, diesen Prototyp echtzeitfähig, skalierbar und hochverfügbar zu machen. Zudem sollte die Testrecke in den urbanen Bereich erweitert und der digitale Zwilling auch in komplexeren Verkehrsszenarien wie im Kreuzungsbereich zum Einsatz gebracht werden. Dafür war es unsere Aufgabe, nicht nur die geeigneten Sensoren und Übertragungstechnologien auszuwählen, sondern auch eine geeignete Softwarearchitektur zu entwickeln. Zudem sollte die Hard- und Software für einen 24/7-Betrieb einsatzbereit gemacht werden.

Wurden die von Ihnen gesteckten Ziele erreicht?

Wir haben die Teststrecke in der recht kurzen Projektlaufzeit von zweieinhalb Jahren um zwei Schilderbrücken und drei Masten erweitert, also fünf neue Sensorstationen mit über 60 neuen Sensoren errichtet. Das ist umso bemerkenswerter, da dies in einer Zeit geschehen ist, in der die Corona-Pandemie Teile der Wirtschaft lahmgelegt hat und auch wir mit Lieferengpässen zu kämpfen hatten. Der digitale Zwilling läuft heute zuverlässig im 24/7-Betrieb und steht nun nicht nur auf der Autobahn, sondern auch im Kreuzungsbereich zur Verfügung. Dafür war es nötig, die Softwarearchitektur komplett zu überarbeiten, da der damals für die ersten zwei Schilderbrücken entwickelte zentrale Ansatz für derart viele Sensorstationen nicht gedacht war. Mit dezentralen digitalen Zwillingen zu arbeiten, schafft uns die Möglichkeit, eine Teststrecke beliebig zu verlängern. Der digitale Zwilling steht uns genau dort zur Verfügung, wo er benötigt wird, etwa in einem Autobahnabschnitt oder an der Kreuzung. Die Skalierungsfähigkeit des neuen dezentralen Konzepts ist zudem eine wichtige Voraussetzung für dessen Einsatz in der Praxis.

Last but not least stellen wir ausgewählte Datenpakete bei Interesse „open source“ zur Verfügung. Die Ergebnisse unserer Forschungen fließen also wieder in die Forschungen andere Universitäten und Unternehmen ein. Für die Datenpakete müssten sich Interessierte lediglich registrieren – zur Registrierung für den A9 Dataset.

Im Laufe des Forschungsprojektes sind 25 Abschlussararbeiten fertiggestellt worden und 10 Forschungsarbeiten abgeschlossen worden. Dazu gehören auch diese erst kürzlich veröffentlichten Arbeiten, wie zum Beispiel über den A9 Dataset – „A9-Dataset: Multi-Sensor Infrastructure-Based Dataset for Mobility Research„.

Welche Herausforderungen haben sich im Verlauf des Projektes ergeben?

Tatsächlich haben sich viele Fragen erst im Verlauf des Projektes ergeben: Zunächst einmal sind hier die administrativen und technischen Fragen zu nennen, die für den Ausbau beantwortet werden mussten. Wie lassen sich alle Sensorstationen über eine Strecke von dreieinhalb Kilometern miteinander vernetzen? Lassen sich überall Glasfaserkabel legen oder ist es besser, über Richtfunk zu arbeiten und sich damit auch das kosten- und zeitaufwändige Verlegen von Glasfaserkabeln zu ersparen. Es war nötig, über baurechtliche Dinge einen Überblick zu bekommen. Zu Beginn war uns beispielsweise noch nicht klar, welche Behörden zuständig waren und welche Genehmigungsprozesse durchlaufen und gesetzliche Vorgaben (etwa über Abstandsregeln für Sensorstationen) eingehalten werden müssen. Baupläne fehlten teilweise oder waren nicht mehr auffindbar, so dass wir Teilstrecken neu vermessen lassen mussten.

Auf technischer Seite hatten wir es mit einer hohen Menge an Daten zu tun. Allein auf unserer Kreuzung sind mehr als 20 Sensoren im Einsatz. Durch die dort verlegten Leitungen laufen mehrere Gigabyte pro Sekunde. Das Datenverarbeitungskonzept muss also eine Rechenarchitektur enthalten, die genau beschreibt, welche Leistungen die Rechenkerne (CPUs) und Grafikkarten (GPU) übernehmen sollten, um diese enormen Lasten am besten zu verteilen. Zudem müssen die Rechner, die neben den Sensorstationen gebaut sind, ständig heruntergekühlt werden. Ohne Klimatisierung lässt sich gerade bei den aktuell hohen Lufttemperaturen kein digitaler Zwilling auf den Weg bringen.

Softwaretechnisch gehören die Sensorkalibrierung und die Entwicklung von Tracking-Algorithmen zu den wichtigsten Herausforderungen: Denn entsprechende Software gab es noch nicht. Zwar sind mathematische Ansätze teilweise verfügbar, doch noch nicht in der Praxis umgesetzt. Inzwischen ist etwa ein mathematisches Kalibrierungsverfahren anhand einer HD-Karte im Einsatz, das es noch nicht gab und von uns entwickelt wurde. Eine Besonderheit bei uns ist zudem, dass die Schilderbrücken sich durch den Wind ständig hin- und herbewegen: Also mussten wir eine Software entwickeln, die diese Bewegungen automatisiert herausrechnet und damit kompensiert. Das geht nur, weil die Taktrate unseres Zwillings mit 25 Herz sehr hoch ist. Weitere Herausforderung: Bei Tag „sehen“ Flächenkameras am besten, nachts jedoch Radare. Um die unterschiedlichen Sensoren je nach Tageszeit und Witterung bestmöglich zu gewichten, haben wir ein Verfahren entwickelt, das selbst entscheidet, dass bei einbrechender Dunkelheit Kamerawerte weniger und dafür die Daten der Radare mehr in die digitalen Zwillinge eingebracht werden.

Welche waren aus Ihrer Sicht die Highlights im Projekt?

Besonders drei Erfolge möchte ich hier nennen:

  1. Wir haben es geschafft, die Infrastruktur zu erweitern. Seit Mitte 2021 sind über die bestehenden zwei Schilderbrücken fünf weitere Sensorstationen im Einsatz. Mit unseren 75 Sensoren laufen nun pro Sekunde 20 Gigabyte durch unsere Netze. Es war klasse, zu sehen, dass das Konzept der Infrastruktur sowie der Realisierung der Datenströme tadellos funktioniert hat.
  2. Seit Herbst 2021 ist der digitale Echtzeitzwilling Tag und Nacht verfügbar, was sich auch auf der Website sehen lässt, auf der der digitale Echtzeitzwilling auf der A9 wie auch an der Kreuzung virtuell zu sehen sind.
  3. Wir haben den zentralen Ansatz eines einzigen globalen Gesamtzwillings abgelöst durch ein dezentrales Konzept. Diesen dezentralen Ansatz haben wir bereits im Frühjahr 2021 aufgesetzt, vorbereitend auf die Installation der neuen Sensoren. Dieser dezentrale Zwilling schafft die Voraussetzung dafür, unsere Teststrecke quasi beliebig weiter ausbauen – skalieren – zu können.

Nicht zuletzt hat diese Erfolge ein kleines Team aus vier Wissenschaftlern, unterstützt durch zwei nicht-wissenschaftliche Kollegen, möglich gemacht. Das ist gerade bei dem Umfang der Dinge, die in den letzten zweieinhalb Jahren geschafft wurden, einmalig.

Inwiefern können die Erkenntnisse aus diesem Forschungsprojekt in der Zukunft genutzt werden?

Zum einen ist es möglich, Anwendungen auf Basis der Infrastrukturdaten zu entwickeln. Derzeit arbeiten die assoziierten Partner VW und Yunex an der Nutzung der Daten. Wichtige Daten unserer Teststrecke nun für alle downloadbar gemacht haben, ist in gewisser Weise der Startschuss dafür, neue Dienste entwickeln zu können und eine entsprechende Community zu schaffen.

Zum anderen haben wir eine Infrastruktur geschaffen, die serienreif ist. Soft- und Hardware sind skalierbar und damit auch industrialisierbar. Ob auf Autobahnen über längere Strecken, entlang von viel befahrenen unfallträchtigen Strecken oder an Kreuzungen oder anderen neuralgischen Punkten in der Stadt: Unser Grundkonzept von Soft- und Hardware kann sofort eingesetzt werden.

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