15. Februar 2022 - Redaktion Providentia

Daten aus der Infrastruktur: Den Verkehr präziser steuern

Mobilitätsspezialist Yunex nutzt erstmals Daten vom Testfeld A9, um Indikatoren für Staus zu entdecken, kritische Situationen im Verkehr frühzeitig zu erkennen und den Verkehr am Laufen zu halten. Besonders wichtig werden diese Daten in der Zukunft, um hochautomatisiertes Fahren sicherer zu machen.

25 Mal in der Sekunde werfen die Flächenkameras auf dem Testfeld A9 ein Bild aus – in einer Frequenz, die selbst für Teresa Gött zu hoch ist. „So feingranular kann man auf den Verkehr gar nicht einwirken – schließlich müssen wir auch die Reaktionszeit des Menschen immer mit berücksichtigen“, sagt Verkehrsingenieurin der Yunex GmbH. Vier Hertz reichen der derzeit aus, um ihre Auswertungen zu machen. Dafür hat ihr das Wissenschaftsteam der TU München Daten von einer Stunde des laufenden Verkehrs auf der A9 zur Verfügung gestellt – Daten, die 12 Kameras von drei Schilderbrücken gesammelt haben. Hier hat es die Verkehrsexpertin besonders auf kritische Situationen im Verkehr abgesehen. 

Wie kommt es zu Staus und Unfällen?

Die „Time to Collision“ steht aktuell im Mittelpunkt ihrer Forschungen. Das ist definitionsgemäß jene Zeit, die vergeht, „bis ein folgendes Fahrzeug einem führenden auffahren würde, wenn beide ihre Geschwindigkeit beibehalten“. Einfach ausgedrückt: Fährt ein Auto 100 km/h, und das dahinter mit Tempo 110 km/h und beide haben gerade einmal zehn Meter Abstand , wäre es nach nicht einmal vier Sekunden aufgefahren. Nach wissenschaftlichen Analysen sollten hier mindestens vier Sekunden vergehen, sonst wird es nach Wissenschaftsmeinung kritisch. „Etwa 50 Mal ist dieses Ereignis in einer Stunde eingetreten“, sagt Gött, „für uns ist das ein Anlass, zu schauen, was danach passiert ist: Kam es zu Stauungen, zu Unfällen oder ist gar nichts passiert?“ Die neuen Daten liefern neue Informationen, um zu überprüfen, ob diese vier Sekunden tatsächlich jenen Zeitraum darstellen, der kritische Situationen herausfordert.

App gegen den Stau aus dem Nichts

Besonders spannend ist der „Stau aus dem Nichts“. Jeder kennt das: Man fährt bei dichtem Verkehr auf der Autobahn, plötzlich stockt der Verkehr, bis er schließlich in „Stop & Go“ übergeht. Nur wenige Minuten später fließt er allerdings wieder und alle fragen sich, wie es dazu kommen konnte. Dr. Thomas Sachse nennt das Phänomen „Stau durch zu hohe Nachfrage“, eine Stockung des Verkehrs, die nicht durch eine eindeutige Ursache wie einen Unfall oder eine Baustelle bedingt ist. Der Key Expert Interurban Systems bei Yunex Sachse geht davon aus, dass man alleine dadurch, jene Situationen automatisiert erkennen zu können, in denen die kritische Time to Collision unterboten wird, Spontanstauungen vermeiden kann. Eine Möglichkeit besteht dann darin, das Tempo durch Anzeigen an Schilderbrücken herunter zu regulieren, sollten zu viele der brenzligen Situationen registriert werden. „Besser wäre allerdings, noch feingranularer vorzugehen“, ist Sachse überzeugt, der dabei an kooperative Fahrzeuge denkt, die miteinander vernetzt sind und diese wertvollen Informationen per App von der Infrastruktur oder von Auto zu Auto zugespielt bekommen. Tempo reduzieren, Fahrstreifen besser ausnutzen mit präzisen Angaben, wie schnell und wo man unterwegs sein sollte könnte die App dann automatisiert ausgeben.

Kooperative Fahrzeuge: Wichtiger Ansatz, noch nicht einsatzfähig

Vom Prinzip her ist die Idee nicht neu: In Holland wurde ein entsprechendes Konzept, „Spook Files – Talking Traffic“ genannt, bereits auf der Autobahn A58 ausprobiert. Fahrzeuge geben stockenden Verkehr sowie Tempoempfehlungen an die folgenden Fahrzeuge weiter, siehe Youtube-Video. Allerdings waren in dem Projekt, in dem Daten wie von „Geisterhand“ in die Fahrzeuge gespielt wurden, ausschließlich vernetzte Fahrzeuge unterwegs, die alle eine entsprechende App zur Verfügung hatten. Das ist aktuell eher unrealistisch: „Bis annähernd alle Fahrzeuge kooperativ sind, werde noch einige Jahre vergehen“, sagt Thomas Sachse. So müssen sich etwa geeignete technische Ansätze erst im Staßenalltag durchsetzen, entweder geeignete Fahrzeugmodelle (wie etwa der Golf 8 mit WLAN) auf den Straßen unterwegs sein oder aber On-Boards-Units verfügbar sein, die mit der entsprechenden Funktionalität ausgestattet sind.

Shuttles und Robotaxen: Daten aus der Infrastruktur erforderlich

Abgesehen von den kritischen Situationen im Verkehr, für die die Daten von Providentia++ einen wichtigen Mehrwert bieten können, steht ein neues Spielfeld erst noch bevor: Das autonome und hochautomatisierte Fahren. „Um das autonome und hochautomatisierte Fahren weiter absichern zu können, ist derzeit eine Redundanz aus der Infrastruktur erforderlich“, ist sich Sachse sicher. Über eine externe Infrastruktur werden einem Fahrzeug Daten (wie jene von Providentia++) zugespielt, die die Perspektive und damit die Informationen des Fahrzeugs überprüfen. „Was die On-Board-Sensoren eines Fahrzeugs sehen, wird durch die Vogelperspektive der Sensorik der externen Infrastruktur überprüft“, so Yunex-Experte Sachse. Wenn heute Shuttles auf Teststrecken geschickt werden, erfordert dies Informationen von außen. Und Robotaxen, die neben Shuttles als die Fortbewegungsmittel der Zukunft in Städten gehandelt werden, dürfen solange nur mit Sicherheitsfahrer in der Innenstadt unterwegs sein, bis eine (im Gesetz für autonomes Fahren geforderte) technische Aufsicht präziser definiert ist und letzten Endes möglicherweise eine externe Infrastruktur diesen Dienst übernimmt. Für Thomas Sachse ist klar: „Egal woher die Daten kommen: Ein verifiziertes Abbild des Verkehrs zu bekommen, wird noch lange nötig sein. Denn es macht den Verkehr sicherer und besser.“

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