2. Februar 2022 - Redaktion Providentia

Der große Vergleich der Testfelder für automatisiertes und autonomes Fahren

Christian Creß hat sich wissenschaftliche Publikationen über Intelligent Transport Systems (ITS) mit externer Infrastruktur angesehen und etwa 350 weltweite Publikationen und 40 Testfelder für automatisiertes und autonomes Fahren analysiert. Der Wissenschaftler des „Testfelds A9“ von der TU München kommt zu dem Schluss: „Deutschland ist ein Hotspot in der Forschung.“

 

Herr Creß, Sie haben sich in der Analyse „Intelligent Transportation Systems Using External Infrastructure: A Literature Survey“ mit Publikationen über ITS und externe Infrastruktur beschäftigt. Was war das Ziel?

Mir ging es darum, herauszufinden, welche zu Providentia++ vergleichbaren Projekte es auch über nationale Grenzen hinaus gibt, zu verstehen, womit sie sich beschäftigen, wohin sie sich bewegen und herauszufinden, welche Forschungslücken es augenblicklich gibt. Ich habe mir etwa 350 Paper angeschaut, die sich mit ITS und Testfeldern auseinandersetzen. Davon stellten sich 114 Publikationen als brauchbar heraus. Letztlich wurden darin 40 Testfeldprojekte beschrieben. Klar ist: Die meisten fortschrittlichen Initiativen sind offenbar in Europa vorangebracht worden, die meisten davon in Deutschland. Deutschland ist also gewissermaßen ein Hotspot für Innovation in diesem Forschungsbereich. Die Basis für diese Erkenntnis ist unter anderem eine systematische Literaturrecherche mit vordefinierten Kriterien, beispielsweise in IEEE Xplore, einer Datenbank für Publikationen im wissenschaftlichen Bereich des Berufsverbandes IEEE, der nach eigenen Angaben mit über 400.000 Mitgliedern aus 160 Ländern der größte technische Berufsverband der Welt ist.

Digital Twin des Straßenverkehrs: Neue Ära von ITS-Ansätzen startete 2014

Heute sind hochentwickelte Systeme in der Lage, einen digital Twin des Verkehrs abzubilden. Das ist noch nicht so lange möglich.

Die Geburtsstunde intelligenter Transportsysteme, die mit externer Infrastruktur arbeiten, liegt in den 80er und 90er Jahren. So setzte sich das bereits mit ersten Ansätzen von V2I auseinander, der Kommunikation zwischen Fahrzeug und Infrastruktur. Erste Warnungen von Gefahren auf der Straße wurden realisiert, wie Eis-, Stau- oder Unfallwarnungen. Das Path-Projekt fokussierte auf die Optimierung des Verkehrsflusses auf Autobahnen und entwickelte Vorläufer des heutigen Platooning-Ansatzes, in dem Lkws sehr eng in Kolonne hintereinanderfahren und so den Sprit- bzw. Energieverbrauch senken.

Nach und nach verbesserte sich die Rechnerperformance, so dass „simulations-basierte Analysen“ des Verkehrs möglich wurden, der Start für die zweite Phase der Entwicklung intelligenter Transportsysteme. Ab 2012 entstanden erste Echtzeitanalysen des Verkehrs – im Projekt Insight etwa, um mithilfe etwa von Kamera- und GPS-Daten sowie Twitter- und anderen Informationen das Ressourcenmanagement in Städten zu automatisieren. Im Projekt ConVeX ging es darum, über Induktionsschleifen (ausgehend von externer Infrastruktur) und Sensorinformationen aus dem Fahrzeug Mehrwertdienste zu entwickeln und die V2V- und V2I-Kommunikation voranzubringen.

Erst die Erzeugung von digital Twins des Verkehrs allerdings ermöglicht jene Präzision in Echtzeit, die letztlich autonomes und vernetztes Fahren entscheidend voranbringen kann. Dazu bedarf es einer Vielfalt an Sensoren, idealerweise ein Mix aus verschiedenen Sensortypen von Flächenkameras, Radaren bis hin zu Lidaren. Diese Daten werden fusioniert und ein digital Twin daraus entwickelt. Den Startschuss in diese Ära fiel durch Braunschweiger Forscher mit der Anwendungsplattform intelligente Mobilität (AIM), die 2014 damit begannen, auf einer Teststrecke von sieben Kilometern Länge in Echtzeit Informationen zwischen Ampeln, Fahrzeugen und anderer Infrastruktur auszutauschen. Zusammen mit dem AIM gehört auch unser Forschungsprojekt Providentia++ zu den geförderten digitalen Testfeldern, die in Deutschland für die Verbesserung des automatisierten und vernetzten Fahrens existieren.

Testfeld Providentia++: Digital Twin live im Internet

Wodurch hebt sich Providentia++ im Vergleich mit anderen Testfeldern ab?

In der Studie habe ich mir 15 Testfelder genauer angeschaut, die auf hohem Niveau digitale Zwillinge ermöglichen. Fünf von ihnen setzen inzwischen mindestens Flächenkameras, Radare und Lidare ein, einige darüber hinaus Stereo-Kameras oder wie Providentia++ Event-basierte Kameras (siehe Grafik). Grundsätzlich steht die Wissenschaft weiterhin vor den Herausforderungen, die Präzision des Gesamtsystems zu verbessern (Perzeption), einen Plug- und Play-Mechanismus zu etablieren sowie eine sichere Verteilung der Echtzeitdaten zuverlässig hinzubekommen. Meines Erachtens gibt es kein Projekt, das derart transparent mit den Entwicklungen im Projekt umgeht wie Providentia++ – das etwa einen Livestream des digital Twins im Internet darstellt und über Teilschritte der Entwicklungen Schritt für Schritt berichtet. Klar ist aber auch und das ist ein Hinweis an viele Testfeldprojekte: Obwohl es potenziell die Chance gibt, viele Mehrwertdienste zu entwickeln und anzubieten, sind diese noch nicht auf dem Massenmarkt angekommen. Erst wenn diese entwickelt und auch skalierbar werden, wird unsere Forschung für Konsumenten sichtbar und sich letztlich auch für die gesamte Branche auszahlen.

Wollen Sie mehr erfahren? Hier geht es zur Publikation „Intelligent Transportation Systems Using External Infrastructure: A Literature Survey„von Christian Creß und Prof. Dr. Alois Knoll/TU München. Direkt zum PDF geht es hier.

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