11. August 2021 - Redaktion Providentia

ASIMI-Faktencheck: Software-Architekturen im Automobilbereich

Softwarearchitekturen haben einen großen Einfluss darauf, ob Automobilkonzerne im Konzert der Großen künftig weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Im Rahmen der Automotive-Software-Interfaces- & Middleware-Initiative (ASIMI) haben wir Experten aus der Autoindustrie gefragt – nach Trends, ihrer Bedeutung, ihrem Nutzen sowie den Herausforderungen.

1. Trends: Welche Entwicklungen prägen Hard- und Softwarearchitekturen für Fahrzeuge am meisten?

Wer Tesla fährt, braucht mit seinem Fahrzeug nicht mehr zur Servicewerkstatt, um seine Software auf den Stand bringen zu machen. Diese Over-The-Air-Updates werden mehr und mehr kommen. Denn Fahrzeuge sind künftig wie Smartphones: Immer neue Funktionalitäten werden entwickelt, die dem Fahrzeug adhoc zur Verfügung gestellt werden sollen. Die Softwarearchitektur wird sich verändern: Software-orientierte Architekturen entstehen, Daten bestimmen eine agile Entwicklung von Services. Das Fahrzeug wird mehr und mehr von der Software bestimmt sein.

“Ich denke, dass die Anzahl, die Komplexität und die Dynamik von neuen Features die Hard- und Softwarearchitekturen am meisten verändern wird. Wir kennen die Features von Morgen nicht. Deshalb müssen wir in der Lage sein, sie schnell zu implementieren. Das erfordert ein updatefähiges, komplexes und sicheres System, das den Kundenanforderungen des Kunden entspricht und zu angemessenen Kosten bei geringem Energieverbrauch und über den gesamten Lebenszyklus des Fahrzeugs hinweg genutzt werden kann.“ (Zulieferer)

2. Auswirkungen: Inwieweit beeinflussten diese Trends das künftige Geschäft?

Erst kürzlich prognostizierte VW-Chef Ralf Brandstätter gegenüber der Süddeutschen Zeitung, dass er für 2030 schon ein Drittel des Konzernumsatzes im Bereich der softwarebasierten Geschäftsmodelle erwarte, ein weiteres Drittel im Bereich der E-Fahrzeuge und nur noch ein Drittel durch Verbrenner. Unsere Kurzumfrage bestätigt das: Die Transformation weg von Hard- hin zu Software, weg vom Verbrenner, hin zum E-Fahrzeug beschäftigt OEMs und Zulieferer. Viele der neuen Geschäftsmodelle entstehen künftig zusammen – im Ökosystem. Die Voraussetzung dafür besteht wiederum darin, softwaretechnisch gerüstet zu sein, etwa Cloud-Plattformen bereits im Einsatz und Softwareexperten an Bord zu haben, die technische und methodischen Grundlagen mitbringen, um „aus Daten Gold“ zu machen. Nur so lassen sich die Chancen nutzen, die in neuen Geschäftsmodellen stecken.

“Wir wollen die Zukunft der Mobilität gestalten, indem wir die wichtigsten Player aus dem Automobil-, öffentlichen und Energiesektor zusammenbringen und deren Bedarfe orchestrieren. Mit unserem Hintergrund in der Automobilentwicklung und Digitalisierung kennen wir die Schwierigkeiten, die klassische Autohersteller aktuell haben, da sie etwa mit veralteten Architekturen arbeiten oder chaotischen Legacy-Code im Einsatz haben.“ (Tier 2)

„Zunehmende Standardisierung wird uns ermöglichen, uns auf die Wertschöpfung bei unseren Kunden zu konzentrieren, etwa neue Features zu entwickeln und die Effizienz zu erhöhen. Besonders der höhere Anteil durch Software und Daten an der Wertschöpfung wird das Geschäft verändern. Hard- und Software werden mehr und mehr entkoppelt. Das wird dazu führen, dass wir unser Versprechen für die Kunden (Value Proposition) und unsere Organisationsstruktur verändern werden.“ (Tier 1)

3. Nutzen: Welche Vorteile ergeben sich durch die Architekturtrends?

Viele Unternehmen sehen die Entwicklungen als Chancen: Software wird über den gesamten Lebenszyklus eines Produktes wart- und updatebar. Der Grund dafür liegt darin, dass Architekturen eingesetzt werden, die in der Lage sind, die zunehmende technologische Komplexität in den Griff zu bekommen. In der Methodik (Agilität, Devops etc.) liegt zudem die Chance, Innovationen schneller liefern, das Funktionsspektrum erweitern und damit Kundenwünsche besser erfüllen zu können.

“Wir sind gerüstet für bevorstehende Veränderungen in der Wirtschaft – und für neue technologische Funktionalitäten. Dazu gehört etwa, ein Fahrzeug auf das autonome Fahren vorzubereiten und Bewegung vorhersagbar zu machen. Zudem wird der Wartungsaufwand durch eine Harmonisierung von Architekturen geringer werden.“ (OEM) 

„Software-Komplexität lässt sich besser händeln, Kosten für Entwicklung und Wartung lassen sich senken und die Qualität und Reife der Software erhöhen, indem Software wiederverwertet werden kann.“ (Tier 2)

4. Welche primären Herausforderungen ergeben sich durch neue Architekturen?

Software-basierte Ansätze erfordern ein Umdenken. Das Verhältnis zwischen OEMs, Zulieferern und anderen potenziellen Partnern ändert sich. Denn nun konkurrieren die OEMs mit anderen „Playern“ auf dem Automarkt um den direkten Zugang zu Kunden. An Offenheit für Kooperationen und für Ökosysteme mangelt es in vielen Unternehmen ebenso wie an plattformbasierten Strategien, die die technische Basis für eine unkomplizierte Zusammenarbeit legen, so die befragten Experten. Hinzu kommt, dass zu wenig Softwareexperten auf dem Markt zu finden sind und ein verbindlicher Softwarestandard fehlt, an denen sich die Autobranche orientieren kann, die nicht selten noch mit Legacy-Strukturen unterwegs ist.

“Die Evolution in der Autoindustrie wird die etablierte Struktur von OEMs und Tier-X-Zulieferer neu definieren. Wir erwarten Wettbewerb aus traditionellen Bereichen, aber auch durch vorherige Kunden, die sich in unseren Bereich erweitert haben. Die Marktdynamik zieht zudem neue Player an – ob OEMs wie Tesla, Tier-1-Zulieferer wie NVIDIA, Start-ups wie Wejo oder andere.“ (Tier 1)

5. Wie wichtig ist die Standardisierung für Ihr Unternehmen?

Ist die Softwarestandardisierung dringend nötig, um mit neuen Playern wie Tesla oder Polestar am Markt mitzuhalten? Integrationsfähigkeit, Kollaboration, höhere Effizienz, Geschwindigkeit in der Softwareentwicklung und Komplexitätsmanagement: Das sind die Gründe, die oft von den Unternehmen genannt werden, die Standards für erforderlich halten. Nur eine Minderheit der Unternehmen ist gegen einen Standard. Sie schätzt den Aufwand als zu hoch ein, einen Standard zu etablieren, den die Mehrheit der Autohersteller und Zulieferer wirklich einsetzt.

„Eine Standardisierung dauert zu lange. Es ist nötig, die OEMs auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Das ist schwierig.“ (OEM)

„Standardisierung ist potenziell einer der entscheidenden Faktoren, um mit neuen Playern auf dem Markt (wie etwa Tesla) konkurrieren zu können. Denn sie unterstützt die Integration und Vernetzung von Drittanbietern, was besonders OEMs hilft, die über eine schlechte vertikale Integration verfügen – wie viele europäische und amerikanische OEMs).“ (Beratungshaus)

6. Wer soll die Standardisierung voranbringen?

Die Frage bleibt, wer die Softwarestandardisierung in die Hand nehmen soll. OEMs könnten sich etwa zusammentun und sich aufgrund ihrer Marktmacht unter sich einigen. Neue Player wie Technologie- und IT-Unternehmen wären wahrscheinlich flexibel genug, sich darauf einzustellen. Andererseits wittern sie gerade jetzt auch ihre Chance, einen großen Schritt auf den Automarkt zu machen, indem sie den direkten Zugang zum Autokäufer anvisieren. Das gilt auch für Zulieferer, die durch neue Services (zu OEMs) alternative Geschäftsfelder für sich entdecken können. In der Zeit der aufkommenden Ökosysteme sind auch hier die Chancen hoch, gemeinsam über alle Parteien hinweg eine Lösung zu suchen.

“Eine Kollaboration von Unternehmen und Hochschulen ist typischerweise nötig. Allerdings muss eine treibende Kraft von der Industrie ausgehen. Lediglich eine weitere Spezifikation wird nicht ausreichend sein und auch nicht akzeptiert werden.“ (Tier 1)

„OEMs sind der Ausgangspunkt für den Konsumenten und spielen eine wesentliche Rolle. Ob sie in der Lage sind, eine ganze Industrie zu führen, ist eine andere Frage.“ (Tier 1)

„Es muss eine gemeinsame Anstrengung sein.“ (OEM)

7. Welche Rolle wollen Sie künftig einnehmen?

Die Befragung der Experten zeigt, dass die meisten befragten Unternehmen die Rolle des Orchestrators (43%) anstreben, obwohl nicht einmal jeder Dritte Befragte bei einem OEM beschäftigt ist. Das zeigt, dass mit der Transformation die Chance besteht, die bestehenden Machtverhältnisse in der Automobilindustrie infrage zu stellen. Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass es essentiell ist, an Ökosystemen teilzuhaben, sei es als Orchestrator oder als Teil der Community.

„Wir sind einer der Treiber im Wandel auf dem Markt und wollen die Architektur mithilfe relevanter Partner gestalten.“ (OEM)

„Wir werden ein aktives Mitglied der Community.“ (Tier 1)

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