26. September 2020 - Redaktion Providentia

Vogelperspektive: Mehr Präzision für den digitalen Zwilling

Der digitale Zwilling des Verkehrs ist immer so gut, wie es die Präzision der Daten erlaubt. Um zu überprüfen, wie exakt die Messungen durch Kameras und Radare auf den Schilderbrücken der A9 aktuell sind und wie präzise damit der mittels Tracking und Sensordatenfusion erstellte digitale Zwilling die aktuelle Verkehrssituation abbildet, schickte das fortiss in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) deren Hubschrauber mit integriertem Kamerasystem los, der über der Autobahn die Position der Fahrzeuge exakt bestimmte. Forscherin Annkathrin Krämmer von fortiss erläutert, was die „Vogelperspektive“ gebracht hat.

Frau Krämmer, Sie sind im Projekt Providentia++ für die Fusion von Daten zuständig und entwickeln digitale Zwillinge. Wie gehen Sie vor?

Wir haben Kameras und Radare im Einsatz, durch die wir die Position, Geschwindigkeit und die Fahrzeugart von Fahrzeugen entlang der Straße bestimmen können. Die Daten der augenblicklich acht Kameras und vier Radare fusionieren wir – kombinieren sie also möglichst optimal. Wir nutzen sozusagen die Stärken jedes Sensors und verwenden darüber hinaus Zusatzwissen wie den zeitlichen Verlauf. Damit erstellen wir einen gesamtheitlichen digitalen Zwilling über den gesamten Streckenabschnitt, das digitale Abbild der Verkehrssituation. Um den digitalen Zwilling für verschiedenste Anwendungen, wie etwa zur Planung in autonomen Fahrzeugen, zu nutzen oder aber zur Weiterentwicklung der Algorithmen im Providentiasystem, muss evaluiert werden, wie exakt er die tatsächlichen Fahrzeugpositionen abbildet. Dafür benötigen wir die so genannte Grundwahrheit, also die exakten Positionen aller Fahrzeuge auf der Straße, damit wir sie mit den von uns berechneten Positionen vergleichen können.

Und deswegen kam der Hubschrauber ins Spiel …

Der Vorteil der Sicht aus 300 Metern Höhe liegt darin, dass durch die annähernd orthogonale Draufsicht auf die Straße Projektionsfehler minimiert werden und keine Verdeckungen zu befürchten sind. Die Mittelpunkte und Umrisse der Fahrzeuge lassen sich also sehr präzise bestimmen und sind unabhängig von unserem System. Die hochauflösenden Kameras des DLR zusammen mit den von ihnen entwickelten hochgenauen Georeferenzierungsmethoden bieten eine Genauigkeit von sechs Zentimetern und damit eine perfekte Basis für einen Abgleich mit unserem digitalen Zwilling.

„Die Überprüfung unseres digitalen Zwillings durch das DLR-Kamerasystem hat uns gezeigt, dass unser System bei guten Wetterbedingungen und normalem Verkehr gut funktioniert.“ (Annkathrin Krämmer, fortiss)

Wie präzise ist der digitale Zwilling aktuell?

Wir haben gesehen, dass die meisten Abweichungen in der Größenordnung der Fahrzeugausdehnungen liegen, bei etwa zwei Metern. Es gibt allerdings auch Ausreißer mit größeren Fehlern. Der Grund dafür liegt darin, dass die Kameras Fahrzeuge im Moment noch entweder vorne oder hinten detektieren, nicht aber ihre Größe. Zieht man die durchschnittliche Länge der Fahrzeuge im Testfeld – 4,80 Meter – hinzu, liegt der quasi hausgemachte Fehler bereits bei 2,40 Metern, beim Abstand zum Mittelpunkt des Fahrzeugs. So gesehen ist der überwiegende Teil unserer Messungen recht gut. Unsere Aufgabe liegt aktuell darin, die Fahrzeugausdehnungen mitzubestimmen, wodurch der Mittelpunkt des Fahrzeugs genau ermittelt wird. Zudem hat sich gezeigt, dass die größten Fehler in der Messung dort auftreten, wo die Fahrzeuge am weitesten von Kameras und Radaren weg sind. Der Grund dafür liegt in der Kalibrierung unserer Sensoren. Kommt es nur zu einer Winkelabweichung von 0,1 Grad, kommt es über mehrere hundert Meter zu immer größeren Messfehlern.

Wie lassen sich diese Fehler verringern?

Die Kalibrierung unserer Geräte muss so präzise wie möglich sein. Je mehr etwa die Schilderbrücken schwanken, an denen die Kameras und Radare angebracht sind, umso größer ist die Gefahr, dass die Kalibrierungen große Fehler ins System bringen. Deshalb ist unser Ziel, dass sich die Sensoren in Echtzeit selbst kalibrieren. Diese Autokalibrierung würde besonders die Fehler über größere Distanzen verringern. Eine weitere Idee ist, Lidare auf der Schilderbrücke zu montieren und aus deren gemessenen Punktwolken die Fahrzeugausdehnungen exakt zu bestimmen.

Sind Sie mit dem aktuellen Forschungsstand zufrieden?

Die Überprüfung unseres digitalen Zwillings durch das DLR-Kamerasystem hat uns gezeigt, dass unser System bei guten Wetterbedingungen und „normalem“ Verkehr gut funktioniert, vor allem wenn wir noch die Fahrzeuglängen hinzuziehen. Im nächsten Schritt, und das wird auch ein wichtiger Teil von Providentia++ sein, arbeiten wir an der Robustheit des digitalen Zwillings. Schlechtes Wetter, extreme Lichtverhältnisse und viele Verdeckungen durch dichten Verkehr dürfen die Qualität des digitalen Zwillings nicht beeinträchtigen. Letztlich muss das System ein optimales Abbild des Verkehrs garantieren – egal wie viele Fahrzeuge auf der Straße unterwegs sind und wie schlecht die Bedingungen sind.

Erfahren Sie Details zur Architektur des Providentiasystems, zur Erstellung des digitalen Zwillings und zu seiner Evaluation im Forschungsbericht:

Providentia – A Large-Scale Sensor System for the Assistance of Autonomous Vehicles and Its Evaluation

Bild: fortiss, 2020

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